DIE ZEIT

 

Ein Kulturbruch, mit links

Demokratie wie aus dem Lehrbuch: Der dritte Machtwechsel der Republik vollzieht sich heiter und undramatisch

Gunter Hofmann

Der Wechsel hat noch keinen Begriff. Gerhard Schröder und Joschka Fischer, von Ende Oktober an Kanzler und Vizekanzler, greifen bereitwillig nach dem großen Wort von der Berliner Republik, mit dem Helmut Kohl ausdrücklich "nichts anfangen" kann.

Der künftige grüne Außenminister beläßt es bei der Andeutung, der Erfolgsdruck sei "unter den Bedingungen einer Berliner Republik" besonders groß, gelegentlich spricht er auch ahnungsvoll vom Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Der künftige Kanzler sieht, kaum viel genauer, die "demokratische Kultur, die sich in 50 Jahren bewährt hat", in der Berliner Republik verbunden "mit dem ungeheuren Maß an Zivilcourage im Osten", das zum Mauerbruch führte.

Aber das ist Theaterdonner. Vermutlich liegt die wahre Dimension dieses Wechsels, der mit so viel Kontinuitätsversprechen abgefedert worden ist, zunächst einmal und vor allem auf einer Ebene, die gar nicht politisch ist. Was da ge-schieht, ist ein Kulturbruch.

Vielleicht hätte man das in jedem Fall ähnlich empfunden nach einer 16 Jahre währenden Kanzlerschaft. Aber mit Rot-Grün hat es dennoch etwas zu tun. Mit einem solchen Bündnis geht die Ära Kohl, damit gehen aber auch definitiv die Schmidt-Jahre zu Ende. Zur Erinnerung: Aus den großen sozialen Bewegungen (Ökologie, Kernenergie, Frieden, Feminismus) war Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre die grüne Partei entstanden. Eine Alternative wollte sie sein vor allem zur herrschenden SPD, die aus Sicht der Grünen jede utopische Lust oder auch nur Bereitschaft verloren hatte, sich auf neue Fragen wie die Zukunft der Lebenswelt oder die Grenzen des Wachstums einzulassen. Der SPD brach eine Generation weg. Und das war erst der Anfang. Willy Brandt litt.

Dann verlor das "Modell Deutschland" seine hegemoniale Kraft. Die Grünen haben das nicht kompensiert, aber sie haben für ein Stück Anschlußfähigkeit zwischen Politik und Gesellschaft gesorgt. Sie zwangen die anderen Parteien erfolgreich zum Mitlernen in Sachen Ökologie. Sie brachten Lust am Diskurs mit, wurden zum geglückten demokratischen Experiment.

Jetzt sitzen sie, klein, aber erwachsen, an der Seite der Sozialdemokraten. Fast könnte man von einer Art Wiedervereinigung sprechen, wenn man das sieht. Es findet da, irgendwie, eine Versöhnung in letzter Sekunde statt. Wäre der 27. September anders verlaufen, wäre die Zeit für ein solches Bündnis dieser Generation - Schröder, Lafontaine, Fischer - vermutlich verstrichen.

Die kulturelle Dimension macht der glatte, sanfte, moderate Machtwechsel deutlich. Eine "Leichtigkeit des Seins" ausgerechnet in dem seltenen Moment, staunt Antje Vollmer, ein schönes Wort zu der großen Transformation. Sie bezieht das auch auf den noblen Abgang des Kanzlers. Er habe die Republik nicht mit einem schlechten Gewissen belastet. Ein heiterer, blendender Abschied.

Oft genug war die Republik zerrissen, was sich in die Wahljahre fortpflanzte, ob es wie vor 30 Jahren um die Ostpolitik oder die Integration der Apo ging oder später um den RAF-Terrorismus, um Kernenergie oder Nachrüstung. Die Art des Wechsels heute verrät etwas. Es findet da eine Versöhnung statt - und das heißt keineswegs, die Konfliktdemokratie werde beerdigt. Diese demokratische Qualität des selbstverständlichen Wechsels ist keine schlechte Plattform für die neue Regierung und die neue Opposition.

Ein rotgrünes Bündnis also: In der Arena der Politik, die es selber nicht offen anzupeilen wagte, wird damit etwas nachgeholt, was sich in der Gesellschaft bereits vollzogen hat. Die Bundesrepublik hat sich in den vergangenen Jahren (im Osten ohnehin, aber auch im Westen) im sozialen und beruflichen Alltag dramatischer verändert und energischer von Regeln befreit, als die Politik wahrhaben wollte. Jetzt werden die Akteure mit der Nase darauf gestoßen. Eine Gesellschaft erfindet sich ihre Politik.

Veränderung in 1000 kleinen Schritten und gut verpackt

Machtwechseltage nach 16 Jahren der Stabilität und der europäischen Umbruchsdramatik: keine Euphorie, nirgends. Jedenfalls nicht in der Welt der politischen Klasse. Wie sich das erklärt? Sie mögen wie Novizen auf der Bühne der Bundespolitik wirken, und aus der Provinz kommen die neuen Helden sowieso alle, genau wie einst Kohl. Aber in Bonn tritt nun eine Generation an, die nicht im Abseits stand, sondern das Handwerk gelernt hat. So lange, bis manche, der Saarbrücker zum Beispiel, schon von einem Einstieg in den Ausstieg aus der Politik träumten.

Dies ist der dritte Machtwechsel, wenn man von der unerhörten Begebenheit des 9.November 1989 einmal absieht. Machtwechsel I fand 1969 statt, aus der Großen Koalition wurde eine sozialliberale Koalition mit dem ersten SPD-Kanzler, Willy Brandt. Zu Machtwechsel II kam es 1982, einem Bündnis von CDU, CSU und FDP. Die Bundesrepublik liebt vielleicht die Veränderungen, aber in 1000 kleinen Schritten und gut verpackt. Die großen Umwälzungen liebt sie bekanntlich nicht.

Selbst Machtwechsel I und II haben davon noch etwas verraten. Ihre Inkubationszeit war sehr lang. Endlose Oppositionsjahre und mehrere Anläufe gingen der Kanzlerschaft Brandts voraus, und selbst dann mußte die SPD sich noch in einer Großen Koalition testen lassen. Brandt holte sich um Mitternacht das Ja Walter Scheels zur Koalition aus SPD und FDP mit ihrer 12-Stimmen-Mehrheit. Er war ein Mann für große Anfänge. Nicht weil er als Veränderer von oben kommen wollte, sondern weil er fähig war, viel von dem aufzusaugen, was Politik werden wollte. Die Republik hatte sich damals in ihrem kulturellen Habitus gewaltig verändert, überprüfte erstmals ihre Tauglichkeit als Konfliktdemokratie, Staat und Gesellschaft rückten zusammen, Brandt spürte das.

Nicht zufällig fand dieser große Machtwechsel seine pathetische Formel in dem Versprechen, die Regierung wolle "mehr Demokratie wagen". In den Schubladen lag eine Menge, vor allem lagen dort Egon Bahrs ostpolitische Papiere. Bahr wie Brandt wollten diese Politik möglichst sofort wahr machen, vielleicht aus der Ahnung heraus, wie schwierig und kurz die Kanzlerschaft sein würde, oder auch, weil Brandt so gerne "seiner Melancholie Termine einräumte" (Günter Grass).

Auch der zweite Machtwechsel bedurfte eines großen emotionalen, politischen Anlaufs. Zuerst mußte die CDU als Partei modern werden, dann, 1980, wollte Franz Josef Strauß sein Glück als Kanzlerkandidat versuchen. Am Ende sagte sich die FDP in ihrem Wendepapier inhaltlich los, bevor Hans-Dietrich Genscher sich entschloß, den Kanzler zu stürzen und den Partner zu tauschen. Ein Drama voller Intrigen, echten und vorgetäuschten Seelenqualen. Erst auf dieser Basis konnten dann die Bundestagswahlen 1983 als nachgeholtes Plebiszit den Wechsel von Schmidt zu Kohl ratifizieren.

Seine Pathosformel fand dieser Anfang im Wort von der "geistig-moralischen Wende". Nun sollten nicht mehr Demokratie, sondern weniger Staat und mehr Leistung gewagt werden. Die Gesellschaft wurde von Politik entlastet, jeder, der wollte, fand seine Nische, und die Politik verlernte das öffentliche Argumentieren. Zum undefinierten Konservativismus, eher eine Sache der Mentalitäten und des selbstzufriedenen Justemilieu, nichts da von geistiger Wende, lieferte die intellektuelle Postmoderne noch die Begleitmusik.

Seine eigene Formel hat der jüngste Machtwechsel noch nicht gefunden. Das Wort von der Berliner Republik ist jetzt noch eine Verlegenheitslösung. Vielleicht ist das auch gut so. Und was ließe sich schon vergleichen mit der Kühnheit einer neuen Großarchitektur namens Ostpolitik oder dem überschießenden Reformoptimismus der Wende von 1969, die 1972, kurz vor dem Ende, von den Wählern noch einmal demonstrativ bekräftigt worden ist?

Rot-Grün hat kein Projekt. Die beiden Parteien kommen in einem Moment zusammen, in dem sie sich fast auseinandergelebt hatten. Die rotgrünen Koalitionen in Hessen und Nordrhein-Westfalen leuchten nicht. Teils, weil die Sozialdemokraten eindimensional modernistisch sind, teils, weil die Grünen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen oder ungeniert der Macht frönen. Endlich dabei!

Nun braucht es auch gar kein Projekt. Einen amtierenden Kanzler loswerden, und noch dazu Kohl, war schon Projekt genug. Das einmalige Abwahlexperiment ist gelungen. Aber die SPD kehrt in einem Moment an die Macht zurück, in dem sie noch nicht wirklich ihre sehr widersprüchlichen Modernitätsvorstellungen durchbuchstabiert hat. Schröder war sicher, nur erfolgreich zu sein, wenn er nicht näher beschreibe, was der Wechsel bedeute.

Nicht zum ersten Mal, gerade in jüngerer Zeit, haben die Wähler ihren vorsichtigen politischen Eliten Mut gemacht und Klarheit geschaffen. Das gilt übrigens für viele der Medien auch. Die rotgrünen Sieger saugen es sich nicht aus den Fingern, wenn sie sagen, in der Regel hätten doch auch die Kommentatoren eine Große Koalition vorgezogen. Die Wähler haben sich davon abgekoppelt. Mehr noch: Ob es einem gefällt oder nicht, sie haben auch dafür gesorgt, daß die PDS zur Normalpartei wird, und zudem, daß die Kleinen überleben.

Wenn es stimmt, daß in den Kohl-Jahren die Politik ausgewandert ist aus den Institutionen, aber sich abgelagert hat in der Gesellschaft, und dafür spricht ja der sanfte Machtwechsel III - was heißt das für einen rotgrünen Neuanfang? Wenn es eine Rückkehr zur klassischen Parteiendemokratie nicht mehr gibt, wo ist der Ort der Politik dann? Es könnte gut sein, daß die Grünen, die als Antipartei begonnen haben, dazu beitragen müssen, die beschädigten Institutionen zu reparieren.

Helmut Kohls Wort übrigens, irgendwann könne er sich auch eine schwarzgrüne Zukunft vorstellen, muß man sich nach der Wahl noch einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das heißt ja auch, daß Kohls Partei gegen ein rotgrünes Bündnis nicht aus prinzipiellen Gründen anrennen kann. Kohl hat sozusagen in letzter Sekunde die Grünen voll anerkannt. Die Eltern entdecken, wer ihre Kinder sind.

Aber diese "Kinder" sind anders. Es sieht schon so aus, als gehe die Zeit einer bestimmten Bürgerlichkeit, die Kohl verkörpert, zu Ende. Und auch, wenn die Begriffe für das Neue darin noch nicht gefunden sind, gerade an der Stelle wird man die Dimension des kulturellen Umbruchs wohl suchen müssen. Es geht nicht darum, mit dem Vorsitzenden der Jungen Union, Klaus Escher, der Kohl-CDU nachzurufen, sie sei "spießbürgerlich". Biedermeierlich, das war sie. Aber ob aus dem Neuen auch eine neue Bürgerlichkeit wird, die sich den Widersprüchen der Moderne offensiv stellt, das soziale Auseinanderklaffen nicht ignoriert, die Zukunft der Lebenswelt im Auge behält, Selbstbewußtsein auf internationalem Parkett nicht mit Großmäuligkeit verwechselt, das alles ist ja noch offen.

Rot-Grün ist das Wagnis der Wähler. Der Vorhang ist weg, man sieht eine Leerfläche. Der Rahmen muß feststehen, es muß klar sein, für wen wir stehen, sagt Oskar Lafontaine. Innerhalb dieser Grenzen kann man sich viele Suchbewegungen, auch Überraschungen vorstellen.

Es klaffen keine Welten zwischen dem, was Oskar Lafontaine und Christa Müller (Keine Angst vor der Globalisierung) oder der Grüne Hubert Kleinert und der Sozialdemokrat Siegmar Mosdorf (Die Renaissance der Politik) beschrieben haben. Ob es nun um höhere Energieproduktivität, eine ökologische Dienstleistungsgesellschaft, nachhaltiges Wirtschaften und langlebige Produkte oder eine andere Unternehmenskultur geht - eine Verständigungsebene ist da. Oskar Lafontaine, Joschka Fischer und Walter Riester in einem Kabinett Schröder - sie kann man sich als Kern einer Reformwerkstatt, die Unorthodoxes riskiert, durchaus vorstellen. Aber Rot-Grün wird auch mit einigen Traditionen brechen müssen.

Noch einmal zurück zur Berliner Republik. Wie der Zufall so will, und Schröder wird ihn gewiß hervorheben, verknüpft sich der Neuanfang mit dem Wechsel von Bonn nach Berlin. National aufgetrumpft hat die vereinigte Repu-blik bisher nicht. Die Freude darüber sollte man sich auch nicht von denen verderben lassen, die, vom Machtwechsel beseelt, die alte Debatte über die krämerselige Bundesrepublik noch einmal neu auflegen möchten.

Wenn man das richtig versteht, heißt es: Die Linke könnte zwar jederzeit in "reichsdeutschen Dimensionen" zu denken anfangen, ein "linker Wilhelminismus" liege in der Luft, und das soll nicht sein. Wohl aber sollen wir heraus aus der Puppenstube Bundesrepublik, weg vom ironischen Staat, wie manche sagen. Jetzt wird es ernst, wenn nicht tragisch. Kein Platz mehr für Gesellschaftskritik, es geht um Existentielles und um Entscheidung. "Vor der Zukunft stehen wir im freien Feld", hat der Soziologe Heinz Bude in der FAZ geschrieben. Also die Stunde Null in Berlin? Und was sollte das heißen? Verbirgt sich wirklich "Zukunftsangst" vor der Größe Berlins und der großen Republik dahinter, wenn man den Wiederaufbau des Schlosses nicht gerade für die frischeste aller Ideen hält? Wie erklärt es sich, daß man so wenig kulturelle, intellektuelle Signale aus Berlin erhält, die etwas davon verraten, daß man sich couragierter den Brüchen der Moderne stellt? Woher die falschen Maßstäbe?

Der "linke Wilhelminismus" ist nicht die Formel für das Neue

Eine wirkliche kulturelle Hegemonie hatte in den Kohl-Jahren bekanntlich niemand mehr. Aber es herrschte eben ein zu selbstgerechtes, am Status quo orientiertes Klima, und die intellektuelle Welt separierte sich von der politischen - im beiderseitigen Einvernehmen. Rot-Grün wird es schwer haben. Der wirtschaftliche Rahmen verheißt nichts Gutes, Spielraum für eine sozialdemokratische Klientelpolitik alter Art bleibt da nicht.

Diese Regierung, und das macht den Reiz des Wechsels aus, ist die Antwort auf 16 Jahre, in denen sich Stabilität mit Lähmung und zuviel Autismus verband. Der Blick ging nach innen. Schröder, Fischer, Lafontaine: Sie kommen nicht gespickt mit Plänen, das ist wahr. Der Wechsel ist, beinahe, eine Art Blankoscheck.

Das ist auch eine Chance. Sie verdient Neugier, auch Kritiklust. Nicht jeder Kritik muß unterstellt werden, sie komme aus dem unpolitischen Abseits, der "Schwermutshöhle". Für die Berliner Republik hat es keine Vorgaben gegeben, auch der "linke Wilhelminismus" ist nicht die Formel für das Neue. Die rotgrüne Regierung von morgen wird es hoffentlich freuen, wenn diejenigen, die am Wahltag für klare Verhältnisse trotz unklaren Angebots gesorgt haben, auch weiterhin mitsprechen.

(c) DIE ZEIT 1998

41/1998