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Porno statt Lego
Immer früher, immer härter und von Liebe keine Spur: Kinder und Jugendliche seien völlig oversexed, heißt es. Aber stimmt das überhaupt? Von Florentine Fritzen "Es ist nicht mehr so, dass man sich verliebt und dann sechs Jahre wartet und es dann macht." (Maria, 17)

Marielle war 13 und wollte es einfach hinter sich haben. Also suchte sie sich einen Jungen aus, schlief mit ihm, und dann trennten sie sich wieder. Die Beziehung währte zwei Wochen. Inzwischen ist die Realschülerin aus dem nordrhein-westfälischen Siegen 14 und hatte schon mit vier Jungen Sex. Marielle, Typ verzogener Fratz, trägt Kreolen-Ohrringe aus Silber und auf dem Kopf einen karierten Hut von H&M. Mit ihren Freundinnen redet sie gern "über Typen und was man mit denen so macht". An ihren ersten Kuss kann sie sich nicht erinnern. "Der ist schon fünf Jahre her. Da war ich neun!"

Die zwei Freundinnen, mit denen Marielle an diesem Tag shoppen geht, hatten noch nie Sex, sehen das aber entspannt. Beide sind etwas plump und himmeln die zierliche Marielle an. Die drei Mädchen kennen ein paar Jungs, die sich öfter zum Pornogucken treffen. Jan-Philip zum Beispiel. Der verhalte sich in der Schule auch entsprechend. "Er betatscht Weiber", präzisiert Marielle. "Aber dann klatsch ich ihm eine." Eine der Freundinnen korrigiert milde: "Manchmal." Marielle nickt und sagt noch, Sex sei sozusagen ihr "Spezialgebiet". Die Freundinnen kichern und ziehen sie in die rosarote Filiale des Girlie-Klamottenladens "Pimkie".

Was ließe sich nicht alles aus dieser Geschichte stricken. Die Jugend von heute ist frühreifer denn je (Marielle). Die Jugend von heute findet Sex nicht mehr so wichtig (die Freundinnen). Die Jugend von heute ist pornographisiert (JanPhilip). Die Jugend von heute ist medial überformt und daher beim ersten Kuss, beim ersten Geschlechtsverkehr völlig überfordert (die gesamte Generation Pimkie).

Thesen wie diese schwirren derzeit durch Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehprogramme und das Internet. Die Sexualität der Jugend beschäftigt die Erwachsenen mehr denn je. Sozialarbeiter, Pädagogen, Wissenschaftler und Publizisten beobachten, analysieren, mahnen, warnen, entwarnen. Was sie im Ergebnis behaupten, ist selten grundfalsch. Das macht es aber noch nicht goldrichtig. Für sich genommen ist jede der Thesen zum Geschlechtsleben der Jugendlichen zu einseitig - und verzerrt damit die Wirklichkeit. Nur wer die Behauptungen näher betrachtet, sie einordnet, zum Teil entschärft und sie - das vor allem - alle gemeinsam in den Blick nimmt, bekommt ein halbwegs stimmiges Bild. Dieses Bild vom Sexleben der Jugend ist bunt. Die Wissenschaft nennt das "Diversifizierung der Lebensstile".

Zunächst also: die Porno-These. Sie ist zurzeit die beliebteste. Auf den ersten Blick klingt sie alarmierend: Jugendliche sähen heute so viele und so selbstverständlich Pornos, dass sie sexuell verrohten. Schon Elfjährige, die beim Mittagessen mitguckten, wenn die Eltern Pornos schauten, imitierten das Gesehene im eigenen Sexualverhalten. Hätten noch nie jemanden gestreichelt oder geküsst, aber Analverkehr längst ausprobiert. Liebe und Zärtlichkeit seien diesen Jugendlichen fremd. Sie bevorzugten harten Sex, am liebsten als "Gangbang", also mit mehreren Jungs und einem Mädchen. Das filmten sie mit ihren Handys und stellten es ins Internet. Da vergewaltige ein Zwölfjähriger auch schon mal eine Sechsjährige. Der "Stern" druckte vor kurzem einen großen Artikel über die sexuell verwahrloste Jugend, "Tagesspiegel" und "Hamburger Morgenpost" zogen nach. Auch bei Birgit Schrowange in der RTL-Sendung "Extra" ging es schon um die Porno-Kinder.

Auch Johannes guckt ab und zu Pornos, mit Freunden. Der 16 Jahre alte Gymnasiast aus Wiesbaden, undifferenzierter rotblonder Kurzhaarschnitt, kräftig, ein paar Pickel, lädt sich die Filme aus dem Internet herunter. Das sei ganz einfach, "wenn man Seiten kennt", sagt Johannes. Stimmt. Der Hamburger Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt sagt: "Daran gemessen, wie leicht zugänglich auch Hardcore-Pornos sind, machen Jugendliche enorm wenig daraus."

Die Verwahrlosungsthese hält Schmidt für übertrieben, obwohl auch er der Meinung ist, dass es "marginalisierte Gruppen sozial Benachteiligter" gebe, die statistisch gesehen zu einer "Brutalisierung von Sexualität und zu traditionellen Geschlechterrollen" neigten: "Wenn junge Männer keine Möglichkeit haben, mit einer Ausbildung, mit einem Beruf Identität zu gewinnen, greifen sie mitunter auf urtümliche Mechanismen zurück." Von einer breiten Strömung, wie sie die selektiven Berichte suggerieren, will der Sexualwissenschaftler aber nicht sprechen. Johannes sagt, was in den Pornos passiere, habe mit seiner eigenen Sexualität nicht so viel zu tun. Obwohl es manchmal schon "ganz interessant" sei, auch mal was nachzumachen. Und zwar? "Irgendwelche Stellungen."

"Das mit den Pornos wird hochgekocht", findet auch Jochen Mahnke. Er arbeitet im Jugendhaus im Frankfurter Stadtteil Sossenheim, den manche als "sozialen Brennpunkt" etikettieren. "Unsere Jugendlichen sind eher konservativ." Jochen Wöhle vom Jugendclub der Arbeiterwohlfahrt Frankfurt-Hausen ergänzt: "Zu uns kommen überwiegend muslimische Jugendliche." Die fänden Pornos eklig. "Für die ist Sex ein Tabu. Klar gehen die am Freitagabend in die Stadt und baggern ohne Ende. Aber das wird nicht kommuniziert. Auch nicht untereinander."

Im Allgemeinen, sagt der Sexualforscher Gunter Schmidt, könnten Jugendliche Sexualität heute aber völlig gelassen sehen, weil sie nicht mehr mit Verboten aufgeladen sei. Die wirklich starken Veränderungen seien in den siebziger Jahren geschehen. Was das für eine Gesellschaft war, die sich von den Aufklärungsfilmen Oswalt Kolles aufrütteln ließ, wäre Jugendlichen heute womöglich schwerer nahezubringen als die Bedeutung des mittelalterlichen Keuschheitsgürtels. Ihnen, sagt Gunter Schmidt, stelle sich bloß noch die unaufgeregte Frage: "Mache ich mir ein bisschen Lust, oder spiele ich noch eine Runde Computer?"

Das führt zur nächsten Behauptung über das Geschlechtsleben der Teenager: Sex sei für Jugendliche gar nicht mehr so wichtig. So nachzulesen etwa in der Zeitschrift "Geo Wissen". Der Kieler Sexualpädagoge Uwe Sielert scherzt: "Manchmal kann man das Gefühl kriegen, Sex komme gerade noch knapp vor Skifahren." Johannes, der Sechzehnjährige aus Wiesbaden, hat Sex, um sich zu entspannen. "Es ist einfach mal eine Abwechslung und echt gut, wenn man Stress hat." Geschlechtsverkehr als kostengünstige Wellness-Praktik. Die 17 Jahre alte Laura aus Darmstadt findet das Gerede über Sex nervig. "Das spielt heutzutage doch nicht mehr so eine große Rolle wie bei unseren Eltern. Man kann ja auch andere Sachen zusammen machen. So Freizeitbeschäftigungen." Auch hier gilt wieder: Klar gibt es Jugendliche, die lieber Inline-Skate fahren, als neue Stellungen auszuprobieren. Und klar gibt es andere, die den ganzen Tag an nichts anderes denken als an Sex.

Natürlich ist das - auch - eine Altersfrage, und natürlich fangen Jugendliche unterschiedlich früh an, sich mit Sex zu beschäftigen. Eindeutig falsch sei die "Immer-früher-These", sagt Sexualwissenschaftler Schmidt. Vielmehr gibt es auch hier nichts, was es nicht gibt: Die einen spielen als Vierzehnjährige noch mit Lego-Piraten, während andere schon so ziemlich alles "erlebt" haben. Manche warten bewusst bis zur Ehe. Andere würden auch gern endlich einmal, finden aber einfach nicht den Richtigen - und würden es nie mit irgendjemandem tun. Darüber würden wieder andere den Kopf schütteln: Als ob Liebe und Sex etwas miteinander zu tun hätten.

Anna zum Beispiel sagt: "Aus Liebe würde man's jetzt nicht unbedingt machen." Die 16 Jahre alte Schülerin sitzt mit ihren Freundinnen Maria, Nicole und Julia auf einer Bank an der Frankfurter Zeil. Die vier Mädchen haben sich alle denselben Lidstrich aufgemalt und schlecken Eis. "Es ist nicht mehr so, dass man sich verliebt und dann sechs Jahre wartet und es dann macht", sagt Maria. Sie ist 17. "Viele machen es, um die Erfahrung zu haben", sagt Julia. Sie ist 15. "Um mitreden zu können. Sonst kommt man nicht cool rüber." Für das normale Alter beim ersten Geschlechtsverkehr einigen sich Anna, Maria und Julia auf 14 Jahre; das sei auch bei ihnen so gewesen, damals. Nicole, das hübscheste der Mädchen und das mit den klügsten Augen, sagt die ganze Zeit gar nichts.

Vielleicht denkt die Sechzehnjährige an die Millionen Dinge, die sie über Sex weiß. Theoretisch. Das führt zur nächsten These. "Die ganze Welt ist voller Sexualreize", sagt Sexualwissenschaftler Schmidt. "Jugendliche sind heute ,overscripted'. Beim Geschlechtsakt muss man nicht mehr die eigene Phantasie benutzen, schreibt sich nicht mehr seine eigenen Storys, entwickelt nicht mehr seine eigene Dramaturgie." Fernsehserien schrieben genau vor, wie die Hand übers T-Shirt zu fahren habe. Wie man den Gürtel öffne.

So ging es auch Mathilde. Bei ihrem ersten Mal war sie schon 19. Das Mädchen mit den hellblonden Haaren und den eisblauen Augen konnte sich dabei überhaupt nicht entspannen. Irgendwie hatte Mathilde die ganze Zeit die Zwangsvorstellung, sich selbst und ihrem Freund Julien gegenüber eine Pflicht erfüllen zu müssen. Während sie mit Julien schlief, plagte sie das Gefühl, phantastische Vorbilder nachzuahmen, nicht echte Wirklichkeit zu erleben. Am Ende schämte sie sich.

Mediale Überformung? Überforderung durch die Flut an Information zum Thema "So geht guter Sex"? Und wie! Mathilde hatte einfach zu viele Romane gelesen - und die darin gepriesene Glückseligkeit des Liebesakts vor lauter Anstrengung selbst nicht erlebt. Die Geschichte von Mathilde hat sich der französische Schriftsteller Stendhal ausgedacht; "Rot und Schwarz" ist 1830 erschienen. Also auch hier: bitte keine Panik. "Overscripted" zu sein liegt wahrscheinlich in der Natur des Menschen. Denn es ist nur natürlich, dass er sich, auch und gerade im Jugendalter, für Sex interessiert, alle Informationen dazu sammelt, verarbeitet und sie zum Teil in die Tat umsetzt. Schon mit 13 oder vielleicht erst mit dreißig. Im Bett oder, wenn's halt sein muss, auch mal mit einem Porno. Wer Gewaltfilme guckt, wird ja auch nicht zwangsläufig zum Serienkiller. Ganz natürlich ist es übrigens auch, noch andere Hobbys zu haben. Skifahren und Inlineskaten sind völlig in Ordnung.

Das erste Mal

Von den heute siebzehnjährigen Mädchen hatten 73 Prozent schon Geschlechtsverkehr, von den Jungen 66 Prozent. Das zeigt eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2006. Für 37 Prozent der Jungen und 24 Prozent der Mädchen kam das erste Mal "völlig überraschend". 64 Prozent der Mädchen und 51 Prozent der Jungen waren beim ersten Geschlechtsverkehr mit dem Partner fest befreundet. 73 Prozent der Jungen und 61 Prozent der Mädchen erlebten den ersten Sex als "etwas Schönes", 22 Prozent der Mädchen und sieben Prozent der Jungen als "etwas Unangenehmes". Bei neun Prozent der Mädchen und 15 Prozent der Jungen benutzte keiner der Partner beim ersten Mal Verhütungsmittel.  flf.

"Es ist nicht mehr so, dass man sich verliebt und dann sechs Jahre wartet und es dann macht." (Maria, 17)

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01.04.2007, Nr. 13 / Seite 59
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