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02.02.2008   

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Ausrutscher in der Arena

Jugendschützer ermitteln gegen die Sendung "Deutschland sucht den Superstar". Begründung: Menschen werden bloßgestellt. Muss man die Kandidaten nicht vor sich selbst schützen?

Pro

VON LANA STILLE

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Eigentlich will man sich über die Castingsendung "Deutschland sucht den Superstar" ("DSDS") ja gar nicht mehr aufregen. Lässt man sich doch dazu hinreißen und äußert sein Entsetzten, dass dort sogar Minderjährige von RTL wissentlich benutzt, vorgeführt, lächerlich gemacht und gedemütigt werden, sagt garantiert jemand: Die sind doch selbst schuld.

Ah ja. Der 17-jährige Raymund wird nachts zu Hause von Fremden angerufen und von ihnen als Arschloch, Schwuchtel und Hackfresse beschimpft und ist daran selbst schuld? Er ist selbst schuld, dass im Internet Dutzende Videos kursieren, die seinen Auftritt zeigen: Wie er, vor Nervosität kaum in der Lage zu sprechen, vor die Jury tritt, eine schlechte Darbietung liefert, von Dieter Bohlen in gewohnter Manier beleidigt wird, weint, zusammenbricht, sich elend auf dem Boden windet? Er ist selbst schuld, dass sein Auftritt mit Überschriften wie "Raymunds Zusammenbruch total lustig" als funny video im Netz angekündigt wird? Irgendwer hat einen der zahlreichen Schmähanrufe, die der Schüler seit seinem Auftritt erleiden muss, aufgezeichnet und präsentiert die "fiese Telefonverarsche" jetzt zum Runterladen - selbst schuld, Raymund?

Nein. Als er zu "DSDS" ging, wusste er nicht, was ein misslungener Fernsehauftritt tatsächlich bedeuten kann. Denn wer sich im Fernsehen so richtig blamiert, der landet im Internet, und spätestens hier verabschiedet sich jegliche persönliche Kontrolle zugunsten einer nicht vorhersehbaren Eigendynamik.

All jene, deren Ausrutscher im Fernsehen übertragen werden, fliegen heute dank Internet immer und immer wieder auf die Fresse. Wären es nur fünf Minuten auf RTL gewesen, wäre Raimund vielleicht mit Hänseleien von seinen Mitschülern davongekommen; durch das Internet erreichten seine Demütigung und die Blamage ungleich mehr Menschen, als es durch die Fernsehausstrahlung möglich wäre.

Die jüngste Vergangenheit und der Skandal um das Videoblog von Jens Jessen zeigen doch, dass nicht einmal ein erfahrener Medienmacher sich über die Tragweite bewusst ist, die ein Internetauftritt haben kann. Der Zeit-Feuilletonchef wurde in Zuschriften als "Perversling" angegangen, dem einige gern "bei Gelegenheit den Schädel eintreten" würden, und verlor danach erstmal die Lust daran, Videos von sich ins Netz zu stellen: Jessen hatte die Macht der modernen Medienmechanismen unterschätzt.

Die "DSDS"-Vorcaster haben Raymund zur Jury geschickt im Wissen, dass er sich blamieren und damit Einschaltquoten bescheren wird. Die Macher der Sendung wussten ganz genau, was Raymund blühen würde. Und deshalb gilt: Sie tragen die volle Verantwortung - und damit auch die volle Schuld.

Contra

VON ARNO FRANK

Neulich in der Berliner Philharmonie gab es einen kleinen Liederabend, geleitet von Thomas Quasthoff, Bassbariton und Professor für Gesang an der Hochschule "Hanns Eisler". Quasthoff, in mancherlei Hinsicht unterhaltsamer als Dieter Bohlen, lud dabei eine Reihe seiner jungen Schüler auf die Bühne, die sich zu behutsamer Flügelbegleitung am deutschen Kunstlied versuchen durften, an Brahms und Schubert also. Keine leichte Aufgabe. Entsprechend streng ging Quasthoff denn auch mit den Vortragenden ins Gericht, coram publico und unumwunden: "Weißt du, wovon du da singst? Von der Liebe! Und die glaubt dir hier im Saal niemand, wenn du dabei so angestrengt deine Stirn in Falten legst!"

Beim zweiten Durchgang, ohne Stirnfalten, kam das Lied dann tatsächlich viel überzeugender, es war verblüffend. Das ist es also, was öffentliche Kritik bewirken kann, wenn sie ohne Häme vorgebracht wird und auf Verbesserung, nicht auf Vernichtung des Kritisierten zielt.

Und so war dieser Liederabend mit Quasthoff eine zutiefst humanistische Veranstaltung, aus der alle Beteiligten ein wenig schlauer und glücklicher hervorgegangen sind - ein mögliches Format für RTL war sie aber nicht. Die Veranstaltung unterschied sich, um es mal ganz deutlich zu machen, von "DSDS" wie ein hingehauchter Wangenkuss auf dem Schulhof von einem schnellen Fick auf dem Bahnhofsklo. Wobei aber nur der schnelle Fick mit Dieter Bohlen auf dem Bahnhofsklo immer wieder einen stolzen Marktanteil von fast 35 Prozent unter den "werberelevanten" Zuschauern zwischen 14 und 49 Jahren einfahren kann.

Jetzt haben auch die Schnellmerker vom Deutschen Kulturrat festgestellt: "Offensichtlich lässt man bei 'DSDS' vorsätzlich musikalisch unbegabte junge Menschen ins offene Messer laufen, um sie in der Öffentlichkeit bloßstellen zu können. Dies hat mit einem Talentwettbewerb nicht zu tun, sondern ist nur billiges Entertainment auf Kosten junger Menschen." Ach was.

Eben jenes billig produzierte Ins-Messer-laufen-Lassen ist die Geschäftsgrundlage der Show.

Es ist, mehr noch, sogar die Mutter aller Geschäftsgrundlagen dieser sehr speziellen Branche, seit man im römischen Kolosseum zur Gaudi des Pöbels unbegabte junge Christenmenschen in die offenen Reißzähne hungriger Löwen hat laufen lassen. Vorsätzlich!

Wer heute, knapp 2.000 Jahre später, noch immer aus eigenem Antrieb in die Arena drängt, der hat es eben nicht besser verdient, der wird dann eben, um im Bild zu bleiben, von Bohlen gefickt. Mag sein, dass die Betroffenen das überraschend unzärtlich finden und deshalb, buhuh, ein bisschen weinen müssen. Sie seien getröstet: Es soll Leute geben, die haben wirklich Probleme.

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