DIE ZEIT

 

Unter Brüdern

Nach dem Rücktritt Fidel Castros und der Wahl seines Bruders Raúl Castro zum Nachfolger, plant dieser, Kuba zu modernisieren: Kapitalismus unter der Aufsicht von Partei und Armee

Von Christian Schmidt-Häuer

Fidel Castro liebte es, immer wieder als sein eigener Leibarzt aufzutreten. Detailliert flocht er Befunde über mögliche oder eingebildete Gefährdungen seiner Gesundheit in die legendären Marathonreden ein. Die Kubaner hätten ihn schon gefragt, so attestierte sich der leicht hypochondrische Comandante en Jefe einmal: »Sind Sie im vierten Jahr Ihres Medizinstudiums?«

Am Dienstag dieser Woche hat der 81-jährige kubanische Patient sein letztes Bulletin im Amt verkündet. Sein Zustand erlaube ihm nicht, nochmals für die Posten des Präsidenten und des Oberkommandierenden zu kandidieren. Fünf Tage bevor die neue Nationalversammlung am kommenden Sonntag Kubas künftigen Staatschef wählt, ist damit einer der größten und willkürlichsten Charismatiker des 20. Jahrhunderts von der Weltbühne abgetreten. Außer Elizabeth II. haben alle seine Zeitgenossen sie schon vorher verlassen.

Er besiegte Feinde ebenso wie Freunde, überstand elf Amtsperioden amerikanischer Präsidenten, dazu die eigenen Fehlschläge ebenso wie die fremden Sabotageakte. Allein zwischen 1960 und 1965 scheiterten, wie die Anhörungen im US-Kongress bestätigten, acht Attentatspläne unter direkter Mitwirkung der CIA. Weder Washingtons schon 45 Jahre dauerndes Embargo noch der Bankrott des sowjetischen Zahlmeisters vor bald zwei Jahrzehnten konnten sein Regime fällen. Es waren gerade die Nachbarschaft und die Feindschaft der Weltmacht Nummer eins, die Fidels Widerstand gegen Fremdherrschaft zu seiner nationalen Legitimation machten. Die demokratische zählte schon bald nicht mehr. Nach dem Sturz des Diktators Fulgencio Batista hatte Castro am 9. Januar 1959 in Havanna versprochen: »Jetzt gibt es keine Zensur, die Presse ist frei… Von heute an gibt es keine Folter, keine Attentate, keine Diktatur.«

Arbeiter und Angestellte protestieren gegen zu niedrige Löhne

All diese Versprechen hat er nicht gehalten. Wie sieht das Erbe aus, das er seinen Nachfolgern hinterlässt? Und ist es überhaupt noch das Kuba, das es Jahrzehnte lang unter ihm war und sein musste?

Das Hotel Casa Granda ist der Stolz von Santiago de Cuba, der zweitgrößten, farbigsten und explosivsten Stadt der Insel. Die brandneuen, klimatisierten Busse, die sich in den engen Raum vor der alten Luxusherberge zwängen, stammen aus China. Ihre Fahrgäste kommen aus aller Herren Länder, soweit diese westlich sind. Zusammengeführt hat sie Kubas größter und erfolgreichster Arbeitgeber, die Armee. Gaviota, Möwe, heißt der vom Militär betriebene Touristikkonzern.

Das Spalier der Bettler vor den Marmortreppen empfängt die Ankömmlinge wie alte Bekannte. Die ziehen zumeist die Flucht vor, zur Rezeption, wo sie, die Koffer streng bei Fuß, auf die Zuteilung der Zimmer warten. Flure und Räume haben die verschwenderischen Maße der Kolonialzeit. Duschen und Wasserhähne geben ihr Letztes mit fast vollem Strahl. Beim Abendessen auf der Dachterrasse, hoch über der Schattenwelt der Armut, genießen die Reisenden das leuchtende Panorama des spanischen Barocks vor der karibischen See. Im Dämmerlicht versinken die grünen Ausläufer der Sierra Maestra. Aus ihrem Gestrüpp trat der Rebell Fidel Castro vor 50 Jahren auf die Weltbühne. In Deutschland herrschte noch Konrad Adenauer und im Süden der USA Rassentrennung.

Was die Touristen nicht sehen, sind die Tankwagen. Sie kommen Tag und Nacht und bringen Wasser für das Hotel. Zum Zähneputzen und für die Badewanne, für den Kaffee, die Suppen und den Abwasch. Das Casa Granda liegt auf dem Trockenen, weil die Rohrleitungen im Zentrum völlig veraltet sind. Der heimlichen Hauptstadt der Afrokubaner haben die Jahrzehnte revolutionärer Experimente und das fast ebenso lange US-Embargo noch mehr von der Grundversorgung genommen als Havanna. Zusammenbrüche von Stromnetzen und Transportwesen gehören zum Alltag. Wer ein Motorrad besitzt – oft noch aus der vormaligen DDR oder neuerdings aus Japan –, darf es als Taxi verwenden und Kunden für den Einheitspreis von umgerechnet etwa drei Cent an jedes Ziel innerhalb der Stadt befördern.

Not macht erfinderisch, aber auch rebellisch. Santiago de Cuba hat darin besondere Tradition. Das einstige Zentrum der Sklavenhalter wurde zur Stadt der Sklavenaufstände. Und der Diktator Fulgencio Batista hörte aus Santiago zum ersten Mal von Fidel Castros revolutionärem Eifer, als der 1953 die dortige Moncada-Kaserne mit einem missratenen Handstreich zu stürmen versuchte.

Plötzlich, im vergangenen Spätherbst, rührte sich das rebellische Erbe wieder. Santiagos Studenten begehrten auf. Wie ihre tschechischen Kommilitonen vor genau 40 Jahren, deren Proteste nach mehr Licht für ihre Heimunterkünfte in den Prager Frühling geführt hatten, beklagten sich auch die jungen Kubaner zuerst über die Stromausfälle. Mit der Empörung wuchs ihre Liste der Mängel. Die Universitätsleitung konnte sich den Protesten nicht länger entziehen. Die Korektorin versprach einvernehmliche Lösungen und wollte im Auto mit Chauffeur davonrauschen. Da blockierten die Studenten die Limousine, schaukelten sie und forderten die akademische Genossin auf, zu Fuß oder mit öffentlichen Transportmitteln heimzukehren. Das Intermezzo endete mit eher harmlosen Handgreiflichkeiten.

Sofort eilten Funktionäre aus Havanna herbei. Sie versprachen Abhilfe für 2009, immerhin. Die Revolution wird dann 50 Jahre alt. Sie beschwichtigten, wiegelten ab und trugen Sorge, dass nichts an die Öffentlichkeit drang. Denn für den 20. Januar 2008 standen die Parlamentswahlen an. Und ausgerechnet in Santiago kandidierte Raúl Castro – Kubas heimlicher Herrscher seit Jahren, der seinem älteren Bruder schon vor dessen drei Darmoperationen im Jahre 2006 das Tagesgeschäft aus der Hand genommen hatte.

Wenige Wochen nach dem Studentenaufruhr sah Raúl in Santiago selbst nach dem Rechten. Mitte Dezember winkte er aus dem offenen Jeep in die engen, quirligen Gassen hinein, begleitet von Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez – an dessen Öl-Tropf Kubas künftiges Schicksal hängt. Einen Monat später, am 20. Januar, wählten Santiagos Bürger Raúl Castro mit den meisten Stimmen aller 641 Kandidaten ins Parlament. 99,30 Prozent wurden gemeldet – gemäß den Vorvätersitten im untergegangenen Ostblock. War da was? Und ob! Nicht nur in Santiago de Cuba, auch in Havanna und anderen Städten protestierten Arbeiter und Angestellte auf den Wahlversammlungen gegen zu niedrige Löhne, ungerechte Steuern und ihre erniedrigende Deklassierung gegenüber ausländischen Wirtschaftsvertretern und Touristen. Beifallsstürme begleiteten die Reden, Pfeifkonzerte die Antworten der Funktionäre.

Kein Prager Frühling, aber ein Hauch von Perestroika und Glasnost

Seit Fidels Siechtum regt sich etwas auf dem altkommunistischen Eiland, das unter seinem Kommando nie hätte aufkommen dürfen. Kein demokratischer Frühling wie einst in Prag. Keine stürmischen Böen des Aufbruchs für Regimekritiker, Medien und schnell raffende Oligarchen wie unter Gorbatschow und Jelzin. Und doch wird da ein Hauch von Perestroika und Glasnost spürbar. Er kommt aus China und soll den neuen Wind einer von Partei und Armee kontrollierten Marktwirtschaft bringen.

Es ist schon seit geraumer Zeit Raúl Castro selbst, der die vorsichtige Wende diktiert. Der kleine Bruder, der als vermeintlicher Kalfaktor des großen Volkstribuns Fidel jahrelang ebenso unterschätzt wurde wie sein heutiges Vorbild Deng Xiaoping einst im Schatten Maos. Nicht dass der unauffällige, nur 1,65 Meter große Kubaner die Kapazität des ebenso kleinwüchsigen, aber intellektuell überragenden Chinesen besäße. Doch Raúl, der am längsten amtierende Verteidigungsminister der Welt, dessen Arm schon in den Stellvertreterkriegen der Großmächte bis nach Angola und Äthiopien reichte, hat auch heute Kubas Divisionen hinter sich. Und diese seine Armee ist die kompetenteste und populärste Institution auf der bisher vom eigenen Polizeistaat und den jahrzehntelangen US-Blockaden abgesperrten, wirtschaftlich abgebrannten Insel.

Kuba lebt seit dem Sommer 2006 ohne Big Brother. Fidel konnte die Bürger nicht länger belehren und beherrschen. Der fünf Jahre jüngere Bruder will mit ihnen reden. Gewiss nicht als neuer Menschheitsbeglücker, sondern fürs Erste, um Zeit für seine Art von Reformen zu gewinnen. Es ist Raúl Castro gewesen, der seit einem Jahr immer wieder öffentlich auf freiere Diskussionen und sogar auf Kritik an den Zuständen im Lande gedrängt hat. Auch die aufmüpfigen Studenten von Santiago hat er weder relegieren noch bestrafen lassen, wie es sein Bruder ohne Zweifel getan hätte. Im Gegenteil. Raúl schickte den Parlamentspräsidenten Ricardo Alarcón, der früher nicht eben sein engster Freund war, in das Feuer einer zweiten Diskussion mit den Kommilitonen. Der musste sich fragen lassen, warum Kubas Bürgern Ausländerhotels und Internet verboten seien und sie nicht einmal nach Bolivien reisen dürften zu jener Stätte, an der Che Guevara vor 40 Jahren den Tod fand.

Es ist ein gewagtes Spiel, das Castro II. riskiert. Zumal das U. S. State Department seine finanzielle Unterstützung für Oppositionsbewegungen 2007 verstärkt auf Afrokubaner, Jugend- und Studentenaktivisten konzentriert hat. Dass der bald 77-Jährige längst machtpolitisch aufs Ganze ging, zeigten die Parlamentswahlen im Januar. Nicht nur entfielen auf ihn mehr Stimmen als auf seinen legendären Bruder. Fidel Castro wurde sogar auf den vierten Platz abserviert. Die meisten Stimmen nach Raúl erhielt dessen engster Vertrauter Ulises Rosales del Toro, langjähriger Generalstabschef und heute Minister für die Zuckerindustrie. Das klang fast schon nach süßer Rache des früher so unterlegenen kleinen Bruders. Denn es war ausgerechnet Rosales gewesen, der vor einigen Jahren gegen die geharnischten Proteste Fidel Castros unrentable Zuckermühlen schließen wollte. Um diesen General a. D. und pragmatischen Generalmanager in einer Person ranken sich Spekulationen, dass er den angewandten Kapitalismus bereits in Europa studiert habe und jetzt Raúls Nachfolger als Verteidigungsminister werden oder ein anderes der höchsten Ämter übernehmen soll.

Der alte Revolutionär hat kein Hehl mehr daraus gemacht, dass er sich zuletzt weitgehend enterbt fühlte. Während sich sein jüngerer Bruder inzwischen allein auf Kuba konzentriert mit dem vorrangigen Ziel, den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben, sah sich Fidel weit über seine Insel hinaus als Messias der Dritten Welt, als der Prophet der Befreiung von Kapitalismus und Imperialismus. Der Mann, den er für berufen hält, diese internationale Mission weiterzutragen, ist der Antipode des unscheinbaren Raúl: Venezuelas Präsident Hugo Chávez. Der großspurige Exobrist, der Lateinamerika wie einst Simón Bolívar im Befreiungskampf gegen die Spanier einigen möchte, war der häufigste Gast an Fidels Krankenbett. Die beiden Revolutionsbarden nannten und nennen einander Vater und Sohn. Einer der engsten Vertrauten des Patienten, Außenminister Felipe Pérez Roque, hatte im vergangenen Jahr in New York sogar öffentlich angedeutet, dass Kuba unter Umständen seine Nationalfahne aufgeben und eine bolivarische Gemeinschaft mit Venezuela eingehen könnte. Ein Testballon – den Raúls Leute sofort abschossen.

Fidel wiederum warnte seinen jüngeren Bruder kaum verhohlen, die revolutionären Ideale nicht wirtschaftlichem Pragmatismus zu opfern. Im Januar dozierte er in einem der Artikel, die unter seinem Namen in den Parteiblättern erscheinen, dass »der Kapitalismus ein Baum mit faulen Wurzeln« sei. Man müsse auf jene ein Auge haben, »die unter irgendwelchen Vorwänden staatliche Unternehmen erfinden und die leicht erzielten Gewinne dann so verwalten, als seien sie ihr ganzes Leben lang Kapitalisten gewesen«.

Am 24. Januar dieses Jahres hat der Langzeitpatient die kubanische Presse wissen lassen: »Als ich in der Nacht vom 26. Juli und im Morgengrauen des 27. Juli 2006 schwer krank wurde, dachte ich, das wäre das Ende.« Das war es auch – für seine politische Rolle. In seinem jetzigen Abschiedsbrief sagt Fidel zwar, dass die Genossen ihn trotz seiner Krankheit nicht vom öffentlichen Leben hätten fernhalten wollen. Doch schon die ersten Fernsehbilder nach der Notoperation hatten die Botschaft vermittelt, dass die olivgrüne Tarnuniform des Comandante en Jefe für immer im Schrank bleiben werde. Dem Patienten schlotterte ein gestreifter Schlafanzug um seine abgemagerten Arme. Was diese Präsentation besagen sollte, lehrt die kubanische Umgangsprache: Einen Pyjamajob übernehmen bedeutet, sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Die seither verbreiteten Aufnahmen und Ausführungen Fidels hatten alle die gleiche, gezielte Aussage: dass dieser zerbrechliche und (nach den drei Operationen) auch leicht wunderlich wirkende Mann keinem Amt mehr gewachsen sein konnte.

Einmal schien es so, als hätte Fidel Castro seinen Brief zum langen Abschied schon geschrieben. Das war am 28. Dezember 2007, als sich die Nationalversammlung zu ihrer letzten Sitzung vor den Wahlen traf. Der Altrevolutionär Ricardo Alarcón im gedeckten Schwarz des Parlamentspräsidenten kündigte ein Schreiben des Staatschefs an. Den Abgeordneten stockte der Atem. Feierlich zog der Redner das Schriftstück aus der Mappe und begann zu lesen. Er, so ließ Kubas Jahrhundertfigur wissen, hänge nicht an Ämtern und wolle den Jüngeren nicht im Wege stehen. Der Parlamentspräsident machte eine Pause – doch was alle erwartet hatten, blieb noch aus. Fidel Castro wandte sich des Weiteren ausführlich dem bedrohlichen Ozonloch zu. Und ließ wissen, dass er auch in Zukunft seine Erfahrungen und Ideen beisteuern werde.

Nichts anderes hat er seit 20 Monaten getan. In mehr als zwei Dutzend Reflexiones del Comandante widmete er sich vor allem internationalen Themen: dem von Chávez propagierten »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, der Geschichte der kubanischen Revolution und ihrer amerikanischen Todfeinde, den globalen Fragen der Menschheit wie Umweltschutz, Energiesparen, Biotreibstoff. Bert Hoffmann, Kuba-Experte am Hamburger GIGA Institut für Lateinamerika-Studien, verwies schon vor einiger Zeit darauf, was Castro in seinen Kommentaren kaum noch erwähnte: nämlich das eigene Land, die Tagespolitik, die Rolle der Partei.

Mit anderen Worten: Für Kuba wollte Raúl den Rat seines Bruders nicht mehr. Aus dessen Doppelrolle als nicht mehr handlungsfähiger Politiker und eigenbrötlerischer Menschheitsberater hat der letzte hohe Staatsgast, der Fidel in Havanna Mitte Januar besuchte, wohlwollend das Beste gemacht. Brasiliens Präsident Lula da Silva knipste Fidel mit einer Spiegelreflexkamera in gespielter Heiterkeit wie auf dem letzten Jubiläum einer Abiturklasse. »Er sprach zwei Stunden und ich eine halbe«, scherzte der Brasilianer nach der Begegnung, »wenn ich einmal erkranke, möchte ich so reden können wie Fidel mit mir.« Doch zum Gegenbesuch lud Lula da Silva schon nicht mehr den gewählten Staatspräsidenten ein, sondern seinen Bruder Raúl. Mit ihm handelte er auch brasilianische Kredite über Hunderte Millionen Dollar aus.

Einen dritten Mann im Bunde hatten die Castro-Brüder nie zugelassen

Dass Raúl Castro all die Funktionen seines Bruders »vorübergehend« übernahm, als dessen Leben nur noch durch eine Notoperation zu retten war, hatte niemanden überraschen können. Einen dritten Mann hatten die Brüder nie aufkommen lassen. Die politische Operation aber, die Fidels schwindende Macht bloßlegte, erfolgte bereits vier Wochen vor seinem Zusammenbruch. Einen Tag vor Raúls 75. Geburtstag am 3. Juni 2006 veröffentlichte das Parteiorgan Granma eine ungewöhnliche Eloge auf den sonst stets im Hintergrund wirkenden Verteidigungsminister. Aus grauer Vorzeit wurde das – wenn man so will – alte Testament Fidel Castros herangezogen, der in den frühen Revolutionstagen verfügt hatte: »Jeder weiß, dass wir hier Nepotismus hassen. Aber ich bin ehrlich überzeugt, dass Raúl genügend Qualität besitzt, mich zu ersetzen, sollte ich in dieser Schlacht fallen.« Doch welche Schlacht konnte hier, mehr als 45 Jahre später, gemeint sein?

Die Lobgesänge der Medien in den folgenden Tagen gaben die Antwort: Es war Raúls Übernahmeschlacht. Seine »Bescheidenheit« und sein kollegialer Führungsstil wurden ausgemalt, sein Bemühen, Problemlösungen stets im Kollektiv anzugehen – tagelang entstand so das leuchtende Gegenbild zum Egomanen und erratischen Alleinherrscher Fidel Castro. Die versteckten Fingerzeige reichten bis in die Privatsphäre. Der jüngere Bruder wurde als verantwortungsvoller Vater und Großvater gerühmt, der sich stets um seine Familie kümmerte. Das war zwar nicht falsch – beschwor aber gezielt einen peinlichen Vergleich herauf. Denn die Familiengeschichten der beiden Castros sind so ungleich wie die Brüder selbst.

Raúl war jahrzehntelang – und bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr – mit der Guerilla-Kämpferin Vilma Espín verheiratet. Mariela Castro, das älteste ihrer vier Kinder, ist die angesehene Direktorin des Nationalen Instituts für Sexualerziehung. Sie kämpft seit Jahren im Parlament für Gesetzesreformen zugunsten der Homo- und Transsexuellen. Fidel Castro dagegen, der zu Beginn der sechziger Jahre Kubas nach Florida emigrierte Elite als gusanos, Würmer, beschimpfte, hatte sie bald schon in der eigenen Familie. Seine Tochter Alina aus der ersten Ehe wurde in Miami Star einer Seifenoper und moderierte eine gegen Castros Regime gerichtete Talkshow. Eine Geliebte von Fidels Sohn Alex, die ein Kind erwartete, folgte Alina. Zwei Halbbrüder seines Sohnes Fidelito sitzen im amerikanischen Kongress. Der Neffe des kubanischen Revolutionärs, Lincoln Diaz-Balart, zählt in Washington zu den schärfsten Gegnern Castros.

Raúl trieb die Exekutionen so voran, dass selbst Fidel ihn bremste

Die medialen Oden auf Raúl und seine Familie als Kontrastprogramm zu Fidels Charaktereigenschaften wären undenkbar gewesen, solange der máximo líder die Macht fest im Griff hatte. Das war nicht mehr der Fall. Und sogar Fidel Castro selbst deutete noch vor dem dramatischen Ausbruch seiner Krankheit sibyllinisch den Abschied von der Weltbühne an. Mitte Juni 2006 reiste er nach Argentinien, besuchte den Ort der Kindheit Che Guevaras und nahm an einem Lateinamerika-Gipfel in Córdoba teil. Als das Auditorium skandierte, »Komm bald wieder!«, schüttelte Kubas Staatschef den Kopf: »Gerne würde ich das tun. Aber dies ist meine letzte Reise.«

Als Fidels Reise in die Weltgeschichte begann und die Revolutionäre 1959 siegreich in Havanna einzogen, bildeten sie noch ein Quintett. Der Liebling der Massen, Camilo Cienfuegos, stürzte mit einem Flugzeug ab, das nie gefunden wurde. Der fast ebenso populäre Huber Matos musste jahrelang im Gefängnis dafür büßen, dass er den Schwenk der Revolution zum Kommunismus ablehnte. Das alles geschah im Oktober 1959, als Raúl Verteidigungsminister wurde. Später abgesprungene Mitkämpfer bezichtigten vor allem ihn, die Ausschaltung der beiden Konkurrenten betrieben zu haben.

Von da an bestimmte ein Trio die stolzen Erfolge und die qualvollen Misserfolge Kubas. In der Stadt Santa Clara, in der Che Guevara Ende 1958 den entscheidenden Sieg über die Truppen des Diktators Batista errungen hatte, hängt im pompösen Mausoleum für die Ikone der Revolution ein überlebensgroßes Foto dieser drei Männer. Der bärtige Fidel mit olivgrünem Barett scheint über die nächste Entscheidung nachzudenken. Che Guevara mit Bart und schwarzer Baskenmütze hat sein eisernes Lächeln aufgesetzt. Raúl, dem das Markenzeichen der »Barbudos«, der Vollbärtigen, immer fehlte, steht zwischen den beiden, einen Kopf kleiner und fragend zum großen Bruder aufschauend. Fidel und Che tragen Kopfbedeckungen, die nicht zu ihrem Kommandeursrang passen. Nur Raúl ist bis zum Scheitel korrekt uniformiert. Revolutionen, so zeigt dieses kubanische Triptychon aus heutiger Sicht, werden von grandios ungeordneten Ideen getrieben und von peniblen Verwaltern überlebt.

Raúl, der leicht nuschelt und kaum vom Blatt hochsieht, wenn er seine Reden monoton abliest, hat immer für Ordnung gesorgt. Zuerst als Robespierre. Er trieb die Exekutionen der Revolutionsgegner so voran, dass selbst Fidel ihn bremste. Aber er sorgte damals mit drakonischen Strafen in den eigenen Reihen auch dafür, dass sich in der Armee keine Drogenabhängigkeit verbreitete. Dann schnürte er mit Disziplin, Geduld und seiner Fähigkeit, Verantwortung zu delegieren, das organisatorische und institutionelle Korsett der Revolution. Schmiedete mit Härte und Biegsamkeit Fidels glühende Ideen in die erkaltende Wirklichkeit um. Flickte das Planwägelchen des realen Sozialismus, das Che Guevara mit seinen kruden Wirtschaftsreformen immer wieder gegen die Wand setzte. Während sich Fidel im Rampenlicht des revolutionären Internationalismus sonnte, wollte Raúl selbst als Verteidigungsminister nur Primus inter Pares sein. Damit gewann er immer mehr Offiziere, die er loyal und gleichrangig behandelte.

Die Stunde des Verteidigungsministers kam, als Anfang der neunziger Jahre das Sowjetimperium zusammenbrach und niemand mehr nur einen Pfifferling für den fernen kubanischen Satelliten gab. Mit über fünf Milliarden Dollar jährlich hatte der Kreml seit dem US-Embargo von 1962 seine karibischen Politmissionare alimentiert. Jetzt gingen auf Kuba die Nahrungsmittel, das Öl, die Lichter aus. Der máximo líder verordnete Steinzeitkommunismus, Ochsen statt Traktoren. Tausende Demonstranten antworteten im August 1993 an der Uferpromenade Malecón: »Nieder mit Fidel!« Hungeraufstände drohten. Doch Raúl wollte kein zweiter General Jaruzelski werden und die Armee, sein Lebenswerk, gegen die Bevölkerung einsetzen – wie es in Polen 1981 geschah. Stattdessen schickte er die Soldaten auf die Felder, gab die Parole »Bohnen statt Kanonen« aus, verkündete die Wiederzulassung bestimmter Kleingewerbe und vor allem jener Bauernmärkte, die sein Bruder zuvor im Geiste der alten Kulakenfurcht abgeschafft hatte. So säten und ernteten die stolzen Internationalisten, die Fidels Revolutionsträume und Raúls Managertalente bis nach Afrika getragen hatten, nun Getreide, Gemüse, Kartoffeln – und retteten das Regime.

Verdiente Offiziere machen als Manager in der Wirtschaft Karriere

Dass Raúl aus der Not die Tugend einer vorsichtigen Marktöffnung machte, konnte Fidel Castro nie wirklich akzeptieren. Die kubanischen Varianten der Ich-AGs, die Bauernmärkte und die von ihm auf dem Höhepunkt der Krise genehmigte Einreise von Devisen bringenden Touristen blieben ihm ein Dorn im Auge. Brian Latell, Kuba-Spezialist an der Universität von Miami und früher bei der CIA, hat in seinem 2005 erschienenen Buch After Fidel darauf hingewiesen, dass der spätere Revolutionär als junger Mann in einer Gegend aufwuchs, in der die United Fruit Company der größte Landbesitzer war. Die Tochter des lokalen Repräsentanten dort berichtete Latell später, dass sich der heranwachsende Fidel stets darüber aufregte, dass der US-Multi einen Strand für seine Angestellten besaß, der den Kubanern versperrt blieb. Der alte Mann und die Revolution haben nicht verhindern können, dass sich diese Geschichte wiederholt.

Heute sind die besten Strände, Hotels, Restaurants, Bars wieder Ausländern und einheimischen Führungsclans vorbehalten. Zwar lässt sich einwenden, dass der Kapitalismus die exklusiven Ansprüche zahlungskräftiger Kunden gleichermaßen begünstigt. Und dass Touristen aus der Ersten Welt in allen Ländern der devisenhungrigen Dritten Welt immer eine abgesonderte, privilegierte Klasse sind. Fidel Castro aber, dessen Befreiungsbewegung zugleich den Ausbruch aus der kolonialen Vorgeschichte und den Aufbruch in eine egalitäre Gesellschaft versprach, fürchtete stets die Rückkehr des Casino-Feudalismus, den er vor 50 Jahren vertrieben hatte. Noch wenige Monate bevor er im Krankenstand endete, wetterte er vor Studenten in Havanna indirekt gegen die chinesische Option seines Bruders: »Manche glauben, dass sie mit kapitalistischen Methoden den Sozialismus aufbauen würden. Das ist einer der großen historischen Fehler.«

So entstand in Kubas schwerster Krise zu Beginn der neunziger Jahre die Bruchstelle zwischen den Brüdern. Raúl und seine Militärs nutzten die Notlage als Manövergelände für die ersten Voraustrupps einer staatskapitalistischen Modernisierung. Seither hat der Verteidigungsminister, der die Armee von 300.000 Mann am Ende des Kalten Krieges auf 50.000 reduzieren konnte, immer mehr Wirtschaftszweige erobert. Verdiente Offiziere der Fuerzas Armadas Revolucionarias (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte) gehen nach ihrem aktiven Dienst im Business auf Posten. Die besten haben die Chefetagen der wichtigsten Unternehmen im Blick. Der Kapitalismus, der aus den Kasernen kommt, war nicht mehr von ideologischen Berührungsängsten gehemmt. Er gehorchte dem Markt und nicht mehr dem máximo líder. Talentierte Offiziere absolvieren Management-Institute in Europa. Aus der vierten Etage des Verteidigungsministeriums in Havanna lenken sie ein Imperium, zu dem 800 Unternehmen gehören und das über 60 Prozent der Wirtschaftskraft Kubas kontrolliert.

Neben dem Touristikkonzern Gaviota nennt die Holding Union de Empresas Militares 230 Unternehmen von Waffenschmieden über Textilfabriken bis zu Zuckermühlen ihr Eigen. Die Armee betreibt einen Autoverleih, eine Fluggesellschaft und dazu landesweite Ladenreihen mit den besten Zigarren und anderen Konsumgütern. Zwei Drittel der Deviseneinnahmen und die Hälfte der Touristikgeschäfte gehen durch die Hände der Militärs. Die Pauschaltouristen aus aller Welt bemerken selten, dass ihr oberster Gastgeber Raúl Castro ist. Sie reisen nicht nur in den Bussen von Gaviota, sie essen auch von den Tellern, trinken aus den Bechern und schlafen in den Betten der Truppe: in den besseren Restaurants, Bars, Hotels. Doch nicht nur die Ausländer, sondern auch die kubanischen Bürger werden von der Armee versorgt.

Miguel schöpft unermüdlich Essig aus einem großen Holzfass in kleine Plastiktütchen. Hilda verteidigt Schweinefleisch und Schinkenspeck mit einem Fächer gegen jede einzelne Fliege. Juan reicht mit seiner ebenholzschwarzen Hand eine kleine Tomate zum Probieren. Ihr Aroma erinnert an Großmutters alten Garten. Sie kommt aber vom Militär. Wie das frische Gemüse rundum auch: Salate, Radieschen, Mangold, Paprika und Kürbis, dazu Papayas, Jukawurzeln, schwarze Bohnen, Süßkartoffeln. Käufer aller Hautschattierungen drängen sich entspannt um die Stände in Havanna-Vedado. Hier wird nicht gefeilscht, es gibt nur feste Preise. Sie sind niedriger als auf den teuren Bauernmärkten und höher als auf den ärmlichen Märkten für die libretas, die noch immer existierenden Lebensmittelmarken. Der Markt mit den froheren Kunden wird vom Ejército Juvenil del Trabajo betrieben, dem Jugendheer der Arbeit. Er ist einer jener Armeemärkte, die in der Notzeit entstanden, als Raúl die Soldaten zur Selbstversorgung aufs Land schickte.

Die jungen, gebildeten Kubaner möchten am liebsten nach Kanada

So hat sich das Militär die Popularität erworben, die ihr Minister – auch aufgrund seiner Rolle als Politscharfrichter in der jakobinischen Frühphase – bis heute nie gewinnen konnte. Die Armee hingegen wird längst nicht mehr als revolutionäre, sondern als nationale Institution angesehen. Sie kontrolliert Staatssicherheit, Partei und Regierung – der Innenminister ist ein Raúl Castro seit fast zwanzig Jahren eng verbundener Armeegeneral. Auch beim Generationswechsel wirkt der Offiziersklub in die Politik hinein. Systematisch sind in den vergangenen Jahren ältere »Fidelistas« gegen »Raulistas« ausgewechselt worden. Vor allem die stellvertretenden Minister kommen inzwischen aus diesen Kreisen. Sie sind im Umgang »entspannt, modern, auch für Europa offen«, findet ein westlicher Diplomat in Havanna.

Was aber ist Raúl Castros Macht wirklich wert? Wie kann er eine Bevölkerung gewinnen, die längst allen Enthusiasmus verloren hat?

Guillermo und Carmen, Jaime und Celia sitzen auf der Mauer, die Havanna von der Welt trennt. Die See wirft sich schäumend gegen die Uferpromenade Malecón. Das Meer ist nachtschwarz ohne ein Fünkchen Licht. Tagsüber ist es so leer wie der Himmel. Nicht einmal Fischer dürfen hinausfahren. Nördlich des Wassers liegt Florida mit zwei Millionen Exilkubanern und den von der CIA finanzierten Propagandasendern. Wer 10.000 Dollar und die entsprechenden Beziehungen besitzt, kann sich aus versteckten Buchten für immer abholen lassen. Das Kleeblatt auf der Mauer hat das Geld nicht. Die Frauen Studentinnen, die Männer Akademiker im Staatsdienst, alle zwischen 22 und 28 Jahre jung, sind noch nie im Ausland gewesen. Drei von ihnen wollen nichts als weg aus Kuba, eine möchte nur reisen, aber zurückkehren.

Kanada ist zu beneiden; denn dorthin möchten die talentierten, ebenso sachlichen wie sensiblen jungen Leute am liebsten. Sie sind der Stolz eines für ganz Lateinamerika beispielhaften Bildungssystems – und die Opfer einer gescheiterten politischen Erziehungsdiktatur. Jeder fünfte der elf Millionen Inselbewohner ist nach 1980 geboren und mit der Not der neunziger Jahre aufgewachsen. Selbst die Eltern dieser Generation haben schon keine Erinnerung mehr an die Diktatur Batistas, die Kuba als US-Bordell und Mafia-Casino betrieb. »Natürlich ist danach nicht alles schlecht gewesen«, sagt Jaime, »unsere viel bewunderten Ärzte haben zum Beispiel bald eine Million Arme aus Lateinamerika gratis am grauen oder grünen Star operiert. Wir sind die Insel, die Blinde wieder sehen macht – aber den Sehenden der eigenen Nation die Augen vor der Welt verbindet.«

Guillermo springt von der Mauer, weil der Nachtwind die Gischt aufpeitscht. »Ich verspüre die Veränderungen, seit Fidel im Krankenhaus ist – aber nicht als Verbraucher. Bis Raúls Reformversuche greifen, bis ich mir eine noch so bescheidene Wohnung kaufen kann, ein Motorrad, einen Telefonanschluss, einen Computer bekomme, sind meine besten Jahre vorbei.« Celia nickt: »Es gibt immer weniger Waren, die immer teurer werden. An der Uni wird völlig offen darüber gesprochen, dass fast jeder weg will.« Nur über Politik rede niemand mehr. Das sei einfach cheo, absolut uncool, wie schlechte Musik. Die Jugend wolle nichts hören von der Revolution und ihren Ikonen. »T-Shirts von Che Guevara und all die anderen Devotionalien sind nur für Touristen«, sagt Celia. »Cool sind alle Symbole des Kapitalismus: MP3-Player, T-Shirts, auf denen ›Florida‹, ›USA‹ oder der Union Jack prangt.« Es kümmere die Jugend immer weniger, dass gerade die Amerikaner mit ihrem Embargo zu allem Elend besonders der Armen und Alten beigetragen hätten.

Wer eine Kuh schlachtet, muss noch immer für acht Jahre ins Gefängnis

Wer die Revolution im Alter von 20 Jahren erlebt hat, wird jetzt 70 und kauft seit 46 Jahren mit Lebensmittelkarten ein. Da stehen die Alten dann in den tristen Libreta-Läden mit ihren Heftchen, in denen alle Familienmitglieder aufgezählt sind, dazu die Tabelle mit den ihnen zustehenden Lebensmitteln und die Kästchen für die Kreuze pro Monat. Die Liste der rationierten, weil subventionierten Waren enthält Zucker und Zahnpasta, Reis und Bohnen, Kaffee, starke und milde Zigarren, Seife und Streichhölzer, ein Weißbrot pro Tag und Person. Das Brot muss täglich, die übrige Ware bis Ende des Monats geholt werden, sonst verfällt der Anspruch. Wenn die Alten vergessen, ihr täglich Brot abzuholen, können sie es auch bei einem Bäcker kaufen – nur in der Regel nicht bezahlen, weil es mindestens das Zehnfache kostet. Zweimal im Monat kommen frische Hähnchen, wenn sie den Laden für die Lebensmittelkarten erreichen. Schweinefleisch gibt es sehr selten, Rindfleisch nie.

Wer eine Kuh schlachtet, muss noch immer für acht Jahre ins Gefängnis. Hier und da kommt jemand mit einer großen Rindfleischportion und allen Vorsichtsmaßnahmen in eine Hochhauswohnung in Havanna, ein ihm bekannter Wohnungsinhaber lädt alle vertrauenswürdigen Nachbarn zum Kauf und erhält dafür seinen Anteil kostenlos. In der großen Notzeit nach dem Ende des Ostblocks kam es zu geheimen Absprachen zwischen lokalen Lokführern und Bauern: Ochsen wurden mit dem Kopf voran ans Gleis geführt – und weil sich der Zusammenstoß dann als »Unfall« erwiesen hatte, kam niemand wegen Schwarzschlachtung ins Gefängnis.

Viele ältere Kubaner haben eher Angst vor Wandel und Wettbewerb. Sie fürchten, dass sie ihre oft nur virtuellen Arbeitsplätze verlieren und dass am Ende sogar die reiche Diaspora aus Miami zurückkehrt zu ihren verfallenen Barockvillen, Bürgerhäusern, Grundstücken, wo sich die verbliebenen Zeitgenossen der Revolution auf engstem Raum zusammengepfercht haben.

In fünf bis spätestens zehn Jahren wird das Alter den Stab über die letzten Revolutionskämpfer brechen. Auch über Raúl Castro. Bei aller momentanen Machtfülle führt er ein Übergangsregime. Seine wichtigste Aufgabe ist es, einen Nachfolger zu bestimmen. Doch wer hätte schon die Doppelstatur dieses Bruderpaares, das unterschiedliche nicht sein konnte und gerade daraus seine Kraft zu historischen Taten und Untaten bezog.

Fürs Erste spielt die Zeit nicht gegen Raúl. Die große Mehrheit der Bevölkerung fürchtet gewalttätige Zusammenstöße. Trotz aller gegenteiligen Hoffnungen und Anfeuerungen der Exilkubaner überwiegen die Ängste, dass Unruhen Familien, Regionen, Rassen spalten könnten. Doch Hunger könnte auch solche Hemmungen beseitigen. Kuba hängt heute von Venezuela fast ebenso ab wie einst vom Ostblock. Hugo Chávez unterstützt das Land seiner ideologischen Väter mit jährlich über zwei Milliarden Dollar. Täglich fließen 100.000 Barrel Erdöl praktisch kostenlos, dazu Diesel und Kerosin.

Die Sorge um das politische Schicksal von Chávez verbindet sogar Fidel und Raúl Castro noch, den Ersteren aus ideellen, den Zweiten aus materiellen Gründen. Das Referendum, mit dem Venezuelas Präsident Anfang Dezember ein Ja für seine unbegrenzte Alleinherrschaft anstrebte, war auch den kubanischen Medien eine Herzenssache gewesen. Als sich jedoch an jenem Sonntag unerwartet ein Nein abzeichnete, begann die Berichterstattung zu versickern. Und Montag früh verbreitete das TV-Programm Buenos Días als erste Meldung die Botschaft des Gesundheitsministers zum Tag der Mediziner. Später folgte die Nachricht, dass sich Hugo Chávez für die Vertiefung des Sozialismus eingesetzt habe. Das Referendum mit seinem Nein fiel schlicht unter den Schneidetisch.

Würde Chávez fallen, könnten in Kuba wieder die Lichter ausgehen wie nach dem Ende des Sowjetimperiums. Hungerrevolten, ein plötzlicher Sturm auf Läden für konvertible Pesos, die Weigerung von Armeeteilen, gegen die Bevölkerung vorzugehen, die Einmischung exilkubanischer Hasardeure und am Ende neue Flüchtlingswellen – das ist nicht nur der Albtraum der kubanischen Führung, sondern auch der vernünftigen Politiker in Washington.

Um den grauen Klotz des amerikanischen Interessenbüros an Havannas Uferpromenade ist es ruhig geworden seit Fidels Siechtum. Die 138 schwarzen Fahnen an turmhohen Stangen flattern im Wind wie die Schwingen mythischer Riesenvögel. Der kubanische Staatschef ließ den »Fahnenberg«, wie ihn die Bevölkerung nennt, 2003 errichten, nachdem Washingtons damaliger Repräsentant an der oberen Etage der US-Vertretung ein elektronisches Band laufen ließ, das mit weithin leuchtenden roten Buchstaben über die Welt aus amerikanischer Sicht unterrichtete. Neben den Fahnen als Sichtblende ließ Fidel antiimperialistische Aufmärsche inszenieren. Damit ist Schluss, seit Raúl die Ämter übernommen hat. Mehrfach hat er inzwischen den USA Verständigung und »geduldiges Warten« signalisiert.

Der größte Coup im beiderseitigen Verhältnis – den Fidel Castro nie ungestraft hätte geschehen lassen – blieb bisher außerhalb Kubas und der USA noch unbeachtet. Ende Dezember erschien zum allerersten Mal ein Interview mit dem derzeitigen US-Mann auf der Insel, Michael Parmly. Es wurde über das regimekritische Internetportal Consensus verbreitet und entsprang einem eigenmächtigen Entschluss des angesehenen Schriftstellers Reinaldo Escobar. Sein Alleingang blieb, zumindest bisher, ohne repressive Folgen – offenbar wollte der jüngere Castro auch in diesem Fall »Geduld« zeigen.

Mit den antiimperialistischen Aufmärschen ist unter Raúl Schluss

Das Interview fand schon im Sommer statt, wurde vom State Department aber erst am 23. Dezember autorisiert. Eine der Fragen ging davon aus, dass Raúl Castro mit Olivenzweigen winke – und die abweisende Antwort entsprach noch ganz der Bush-Doktrin, dass mit Havannas heutiger Regierung nichts laufen werde: »Der angestrebte Dialog muss mit dem kubanischen Volk erfolgen. Dennoch möchte ich auf das verweisen, was mich seit dem vergangenen Sommer beeindruckt hat: die ganze Art, wie die Kubaner aufwachen und ihre Wünsche nach einem Wechsel äußern. Die Wünsche kommen aus Veröffentlichungen, Debatten, Unterhaltungen auf der Straße und in Weblogs! Diese Menschen, Pädagogen, Hausfrauen, Bibliothekare, Journalisten, Schüler, Studenten oder Angehörige von politischen Gefangenen, sind Kubas wirkliche Patrioten. Ich bin überzeugt, dass alle Kubaner diesen Wunsch nach einem Wandel im Herzen tragen.«

Raúl Castro muss also zumindest bis nach den US-Wahlen warten, um auch mit der Annäherung an Amerika aus dem Schatten seines Bruders zu treten.

DIE ZEIT, 21.02.2008 Nr. 09

09/2008