DIE ZEIT, 23.10.2008 Nr. 44     [http://www.zeit.de/2008/44/Saviano-Mafia-Drohungen]
 

Italien, ein Schurkenstaat?

Menetekel Roberto Saviano: Der Autor des Mafia-Enthüllungsbuches "Gomorrha" fürchtet um sein Leben. Und das im Italien des Jahres 2008: Eine Nation gibt sich selbst auf.

Roberto Saviano ist zurzeit der bekannteste Schriftsteller Italiens. Sein Buch Gomorrha über die neapolitanische Camorra hat sich allein in seiner Heimat 1,2 Millionen Mal verkauft – die Camorra hat nun angedroht, ihn bis Weihnachten zu ermorden. Das jedenfalls behauptete ein reuiger Camorrista. Saviano hat daraufhin öffentlich erklärt, dass er überlege, Italien zu verlassen.

Was ist das für ein Staat, muss man sich fragen, der seinen bekanntesten Schriftsteller nicht wirklich schützen kann? Viele Italiener würden antworten: Welcher Staat? Es gibt ihn doch gar nicht, jedenfalls nicht als ordentliches, dem Bürger dienendes Wesen.

In Kampanien, dessen Schicksal Saviano so kraftvoll beschreibt, hat sich der Staat längst zurückgezogen. Natürlich, nach den Morddrohungen solidarisierten sich die Spitzenpolitiker des Landes mit Saviano, über 100000 Bürger unterschrieben eine Solidaritätserklärung, zahlreiche Nobelpreisträger haben eine Petition veröffentlicht, und auch die Polizei war nicht untätig geblieben. Sie verhaftete über 120 mutmaßliche Camorristi. Doch diese plötzliche Aktivität des Staates ist den Italienern suspekt. Oft genug haben sie schon erlebt, dass alles wieder in den alten, blutigen Trott zurückfällt, sobald die Scheinwerfer ausgeschaltet sind. Das weiß auch die Camorra. Den Bürgern fehlt es an Vertrauen.

Tatsächlich ist der Staat auch im Rest Italiens nicht präsent. Wenn er dem Bürger überhaupt entgegentritt, dann als gnadenloser Steuereintreiber, der allein die Gier einer unersättlichen politischen Kaste bedient. Der Journalist Gian Antonio Stella veröffentlichte vor einem Jahr ein Buch mit dem Titel La Casta – darin beschrieb er die unglaublichen Privilegien der Politiker. La Casta ist das Porträt der Unberührbaren. Auch dieses Buch fand Hunderttausende Leser.

Die Misere also liegt offen zutage. Es ist nicht so, dass die Italiener nichts dagegen täten. Sie suchen dort einen Ausweg, wo man ihn in einer Demokratie normalerweise sucht: in der Wahlurne. Sie statteten Silvio Berlusconi mit einer soliden Mehrheit aus. Er sollte endlich mit den Missständen aufräumen. Freilich ist Silvio Berlusconi alles andere als der Inbegriff eines Staatsdieners, er ist ein Staatsverächter, der es versteht, im Schutze ebendieses Staates kräftig in die eigene Tasche zu wirtschaften. Mit ihm hat man den Bock zum Gärtner gemacht.

Savianos Hilferuf muss man als Zeichen für den fortschreitenden Verfall staatlicher Autorität lesen. Die Regierung Berlusconi trägt allerdings nicht dazu bei, ihn zu stoppen, sondern sie beschleunigt ihn.

Berlusconi umgeht die Institutionen des Staates, er höhlt sie aus und diskreditiert sie öffentlich. Legendär sind seine Ausfälle gegen die angeblich kommunistische Justiz und die Ineffizienz des Parlaments. Nun gibt es viel Grund zur Klage und viel Bedarf nach Reform – doch Berlusconi macht die Institutionen durch seinen autoritären Herrschaftsstil obsolet. Dafür ist ihm der Applaus des Volkes sicher. Erschöpft gibt es sich den Sirenenklängen Berlusconis hin. Die Frage ist: Wohin führt dieser Verführer?

Wahrscheinlich weiß er es selbst nicht genau, doch sind seine Instinkte klar. Er ist gegen alles, was seinem Willen im Wege steht, gegen alles, was langsam, mühevoll und differenziert ist. Es geht ihm um Beschleunigung. Was ihr entgegensteht, soll von einem Sturmwind hinweggefegt werden. Entgrenzung ist der Schlüsselbegriff. Im Ergebnis finden wir dann ein Gebilde, das weniger einem Staat ähnelt als einem Niemandsland, bevölkert von unheimlichen Gestalten, die ihrem grausigen Handwerk nachgehen können, ohne dass ihnen jemand in den Arm fiele. Manche von ihnen sind ja schon seit Jahren kräftig am Werke wie etwa die Rassisten der Lega Nord, die unbelehrbaren Faschisten, oder die mordgierigen Mafiosi. Die gab’s schon immer, ließe sich einwenden. Das hält Italien aus, das gehört zu den Widersprüchen des bel paese. Das ist richtig, doch noch nie waren diese Gesellen ihrem Ziel so nahe.

Heute ist Italien ein Land, in dem der Torwart des Edelclubs AC Milan in einem Interview sagen kann: »Ich bin Faschist!«, ohne dass er dafür Konsequenzen zu fürchten hätte; heute ist Italien ein Land, in dem Mitglieder der Regierung die letzten Getreuen Mussolinis zu Verteidigern des abendländischen Wertesystems stilisieren; heute ist Italien ein Land, in dem Mitglieder der Regierungsparteien ungestraft Rassistisches von sich geben können; und heute ist Italien eine Land, in dem es zu Pogromen gegen Roma kommen kann, ohne dass dies allzu große Proteste auslöst; und es ist ein Land, in dem die Camorra einen Schriftsteller zur Emigration zwingen kann.

Der Staat als Bändiger der niederen Instinkte des Menschen hat abgedankt. Savianos Verzweiflung ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Das schöne Italien ist hässlich geworden.

Camorra

Von Ulrich Ladurner

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DIE ZEIT, 23.10.2008 Nr. 44