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An Zeitungslektüre ist doch immer wieder erfrischend, Denkanstöße aus anderen Bereichen als der eigenen täglichen Arbeit zu bekommen:
Ein Buch des Politologen Samuel Salzborn (mirror) wird vorgestellt und der Artikel zeigt schon viele interessante Deutungsmustern zum Antisemitismus:
"ANTISEMITISMUS Der Politologe Samuel Salzborn verknüpft in
"Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne" wissenschaftliche
Theorie und Empirie"
Der Autor beansprucht, eine Lücke zu
füllen. Er beklagt, dass keine akademische Studie existiere, die die
abstrakten Theorien über Antisemitismus mit empirischen Erkenntnissen
aus Umfragen, Interviews oder sozialwissenschaftlichen Studien verbinde.
...Diese Studien seien nicht ausreichend theoriegeleitet, so werde der
Antisemitismus zu einem Vorurteil unter anderen.... Salzborn hingegen
versteht den Antisemitismus als "negative Leitidee der Moderne" und geht
mit der Kritischen Theorie davon aus, dass die moderne Form der
Judenfeindschaft integral zur bürgerlichen Gesellschaft gehört, deren
Produkt und zugleich ihre Negation ist.
Am Beispiel von Jürgen
Möllemann und Martin Walser erläutert Salzborn die charakteristischen
Elemente des sekundären Antisemitismus: Die Juden würden für die Folgen
der Schoah verantwortlich gemacht und störten das Bedürfnis nach
nationaler Identität, da ihre bloße Existenz an die Verbrechen der
Deutschen gemahne. Zur Selbstentlastung würde das Handeln von Juden mit
dem der Nazis verglichen. Eine große jüdische Macht werde imaginiert,
die bewusst die Schoah nutze, um daraus Kapital zu schlagen. Der
jüdische Staat Israel fungiere immer häufiger als "Kollektivjude". In
einem abschließenden Kapitel erläutert Salzborn, dass der Kern des
Antisemitismus ein psychologisch zu begreifendes Phänomen, ein
unbewältigter Triebkonflikt sei, in dem die Juden als Projektionsfläche
für Aggressionen dienten. Dies führe zu einer
manichäischen Weltsicht, die jede Realitätsprüfung
vermeide.
Ein anderer Artikel beleuchtet die polnische Welt- und Eigensicht im Anblick der Katastrophe bei Smolensk:
Als der verunglückte polnische Präsident am vergangenen Sonntag im nationalmythischen Heiligtum Wawel unter Anteilnahme der gesamten Weltöffentlichkeit beerdigt wurde, hatte das für mein Land eine fatale Symbolkraft....Die trotzige Verknüpfung alles Weltgeschehens mit den Deutungsmustern, die die polnische Nationalmythologie vorzeichnet, erscheint seither erst recht als der Königsweg für Polen. ... Dass im Laufe der vergangenen Woche zunächst einmal irgendwie Smolensk zu Katyn und Katyn zu Smolensk wurde, haben polnische Diplomaten und Korrespondenten ... vor allem mit Hinweis auf das polnische "Märtyrertum" verständlich zu machen versucht... Im 18. Jahrhundert wurde Polen geteilt, getilgt und ausgelöscht durch die angrenzenden Mächte; der letzte König von Polen, Stanislaw August Poniatowski, starb in russischer Gefangenschaft. ...Entscheidend für das Verständnis der aktuellen Vorgänge ist allerdings, wie dieses nationale Leid und Unglück in der Folge verarbeitet und wie es für die Polen sinnhaft wurde....Entscheidend sind hier die Mythen der polnischen Romantik, allen voran der des polnischen Messianismus. ... "Nationalpropheten" : Adam Mickiewicz (1798-1855) und Juliusz Slowacki (1809-1849) ... Kurz gesagt, funktioniert der polnische Messianismus also so: Polen nahm durch seinen Untergang im 18. Jahrhundert das Leid aller Nationen auf sich, so wie der Messias es für alle Menschen getan hat, um sie zu erlösen....Man ahnt nun auch schon, wie die stets gleiche poleneigene Transformation von Sinnlosigkeit in Sinn auch im vorliegenden Fall wieder griff: Lech Kaczynskis Unfalltod wurde nicht nur zu einem Märtyreropfer, er öffnete zudem, ganz messianisch, "der Freiheit eine Gasse". Die Russen trauern endlich, Katyn und das Leid Polens überhaupt wird in die Erinnerung der ganzen Welt zurückgerufen - es war eine Heldentat.